Grenzen aufdeckender Therapie bei strukturellen Störungen und Alternativstrategien
Ein
Kernanliegen aller psychodynamischen Therapieverfahren ist das
„Bewusstmachen“ jener unbewussten Antriebe, Bedürfnisse, Motivationen, Affekte, Hemmungen, Kompensations- und Abwehrmechanismen von Patienten, die in
ursächlicher Beziehung zu ihren aktuellen Krankheitssymptomen stehen. Durch dieses
Bewusstmachen sollen die Patienten zunehmend eine
bewusste und willentliche Steuerung
über ihre unbewussten Prozesse gewinnen.
Neben der biografischen Anamnese und
Schilderung von aktuellen konfliktreichen Beziehungsepisoden im Leben der
Patienten spielt in den psychodynamischen Verfahren die Übertragungsbeziehung zwischen PatientIn und TherapeutIn eine
zentrale diagnostische und therapeutische Rolle. Das Angebot einer TherapeutIn, über viele
Stunden für einen Patienten da zu sein und ihm zuzuhören, ist eine indirekte, implizite Einladung an die gehemmten und
abgewehrten Antriebe und Wünsche des Patienten, sich
innerhalb der Therapiebeziehung aus ihrer Deckung hervorzuwagen.
Insgeheim
wünscht sich ja jeder Mensch, dass seine innersten Beziehungsanliegen von anderen Menschen wohlwollend
gesehen und positiv gespiegelt werden. Zugleich besteht aber die Angst, dass man mit diesen Anliegen zurückgewiesen und wegen dieser Anliegen
nicht geliebt wird. Beim Neurotiker sind dringende Beziehungswünsche oft so
stark gehemmt oder abgewehrt, dass sie nicht bewusst sein dürfen. Trotzdem
drängen sie – und zwar umso stärker, je mehr sie abgewehrt sind – danach, sich
in einer geeigneten Beziehung, zum Beispiel in einer Liebesbeziehung oder eben
in der Therapiebeziehung, zu zeigen.
Die Kunst der psychodynamischen
Psychotherapie besteht darin, geeignete Hypothesen (Deutungen) über das
unbewusste innerseelische Geschehen, dass in dem äußeren Verhalten und
Äußerungen des Patienten erahnbar wird, einfühlsam und für den Patienten
verständlich zu formulieren. Idealerweise setzt sich der Patient mit den
Deutungen auseinander, gewinnt neue Einsichten und beginnt, seine Wahrnehmung,
sein Denken und sein Verhalten nach und nach zu ändern.
Oft aber verstehen die Patienten die
Deutungen ihrer TherapeutInnen nicht oder verschließen sich gegen sie. Es kann
auch sein, dass der Patient sich intensiv mit den Deutungen auseinandersetzt,
sich aber weder sein Verhalten noch seine Symptomatik positiv verändert.
Mitunter verschlechtert sich sogar das Befinden des Patienten durch die
aufdeckende Psychotherapie. Für solche Phänomene wird gerne ein unbewusster Widerstand des Patienten verantwortlich
gemacht.
Nach
meiner Erfahrung als Supervisor handelt es sich bei dem scheinbaren Widerstand eines Patienten aber oft um ein strukturelles
Defizit. Das Ich-Funktionen-Niveau beziehungsweise Strukturniveau vieler Patienten ist einfach
überfordert, wenn ihre Therapeuten beispielsweise ihre Gegenübertragung offenlegen und psychodynamische
Hypothesen über die unbewussten Intentionen der Patienten oder über den Zusammenhang ihrer
aktuellen Probleme mit den Bedingungen ihrer Kindheit formulieren. Viele Patienten sind
zu dem Perspektivenwechsel, zu dem sie ihre Therapeuten einladen, strukturell einfach nicht in der
Lage.
Als
Supervisor bestehe ich daher grundsätzlich darauf, dass bei jedem Patienten das
Strukturniveau bestimmt wird. Denn ein hoch
bezahlter Beruf, eine brilliante Ausdrucksweise und selbst der Abschluss eines
medizinischen oder psychologischen Hochschulstudiums schließen keineswegs aus,
dass ein Mensch an schwerwiegenden strukturellen Defiziten leidet, beispielsweise in der
Impuls-, und Affektsteuerung oder in der Regulierung des
Selbstwertgefühls. Ein Mensch kann überaus kultiviert und erfolgreich und
dennoch dem Alkohol verfallen, ständig von
Selbstzweifeln gequält und vom Suizid bedroht sein. Menschen mit erheblichen
strukturellen Defiziten haben in der Regel
schon früh in ihrem Leben, lange bevor sie sprechen konnten, Erfahrungen von
unsicherer Bindung oder sogar
Traumatisierung gemacht. Solche
Erfahrungen sind verbal kaum erreichbar. Die übliche Strategie psychodynamisch
fundierter Psychotherapeuten, Worte für unbewusste Erfahrungen und Konflikte des Patienten zu
finden, funktioniert hier nicht.
Wenn
strukturelle Defizite im Vordergrund
stehen, bedarf es einer besonderen Behandlungsstrategie, bei der die Haltung
und das nonverbale Verhalten des Therapeuten für die therapeutische Wirkung
wichtiger sind als die intellektuellen Inhalte des Gesprächs.[1] Eine Hauptaufgabe des
Therapeuten besteht darin, sich als geduldiges, wohlwollendes, belastbares und
ausdauerndes Gegenüber zur Verfügung zu stellen. Wesentlich ist, dass es
gelingt, die Therapiebeziehung über einen längeren
Zeitraum (bis zu mehreren Jahren) zu erhalten und zu festigen. Diese Beziehung
kann nicht nur durch instabile Bindungsmuster, primitive Abwehrvorgänge, abrupte Selbstschutzmanöver und Rückzugstendenzen
des Patienten ständig gefährdet sein, sondern auch durch die negative
Gegenübertragung des Therapeuten. Die
größte Herausforderung für den Therapeuten ist, das problematische Verhalten
des Patienten nicht persönlich zu nehmen und es nicht als etwas vorsätzlich
Destruktives zu interpretieren, das der Patient absichtsvoll gegen den
Therapeuten richtet. Man muss sich als TherapeutIn immer wieder klarmachen,
dass der Patient (noch) nicht anders kann, als sich so zu verhalten, wie er es
aktuell tut. Bestimmte
Ich-Funktionen stehen ihm aufgrund ungünstiger
Entwicklungsbedingungen in seiner Kindheit einfach (noch) nicht zur Verfügung.
Als
Therapeut versuche ich bei strukturell gestörten Patienten, eine „beelternde“
Haltung einzunehmen und ihnen einen Teil ihrer Verantwortung, zum Beispiel für problematische Impulse oder mangelndes
Mitgefühl, zu erlassen. Trotzdem werde ich sie als Urheber ihres Verhaltens
ansprechen und ihnen zumuten, für ihr Verhalten zunehmend Verantwortung zu
übernehmen und funktionalere Bewältigungsformen für ihre strukturellen
Einschränkungen zu erwerben. Auch bei strukturell gestörten Patienten ist ein
Perspektivenwechsel, ein veränderter Blick auf sich selbst und die eigenen
Schwierigkeiten, notwendig und möglich. Ich arbeite mit dem folgenden
einfachen und allgemeinverständlichen Modell, um meinen Patienten deutlich zu machen,
worum es in der Therapie geht:
Die
Symptome, unter denen ein Patient
leidet, zum Beispiel Angst, Depression oder psychosomatische Beschwerden, sind der
Hauptgrund dafür, dass er sich überhaupt in psychotherapeutische Behandlung
begibt. Der mit den Symptomen verbundene Leidensdruck ist in der Regel der
wichtigste Motivationsfaktor für die Behandlung und damit eine Entwicklungschance. Die meisten
Patienten wollen die Ursache für ihre Symptome verstehen, und jeder Patient
will seine Symptome los werden. Deshalb muss für die Patienten immer erkennbar
bleiben, dass die Psychotherapie auf die Verminderung
ihrer Beschwerden ausgerichtet ist. Jeder Patient hat Wünsche an sein Leben, an seine Mitmenschen, an seinen Therapeuten.
Wenn wichtige Wünsche dauerhaft an ihrer Befriedigung gehindert werden,
treten negative Affekte und nicht selten
psychische oder/und psychosomatische Krankheitssymptome auf.
Häufig
stehen die Anforderungen unseres Lebens, vor
allem jene, welche das soziale Umfeld und der Beruf an uns
stellen, wichtigen eigenen Wünschen entgegen. Grundsätzlich steht jeder von uns
im Konflikt zwischen seinen eigenen Wünschen und den Anforderungen seines
sozialen Umfelds. Um diesen Anforderungen und zugleich unseren eigenen
Bedürfnissen gerecht zu werden, um
eine ausgewogene Balance zwischen beiden herzustellen, sind wir mit
Ich-Funktionen beziehungsweise Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten ausgestattet. Die meisten
Menschen wissen jedoch gar nicht, dass sie diese Fähigkeiten haben. Eine
wesentliche Aufgabe von Psychotherapie besteht darin zu untersuchen, wie gut
Patienten jeweils mit diesen Fähigkeiten ausgestattet sind. Anhand des Profils
der Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten (siehe unten) erkläre
ich meinen Patienten in möglichst einfachen Worten, worin diese Fähigkeiten im
Wesentlichen bestehen.
Der
Vorteil einer solchen Auflistung von Ich-Fähigkeiten ist, dass sie zur
Selbstreflexion und zum
Perspektivenwechsel einlädt. Wer sich mit
einer solchen Liste von Ich-Funktionen beschäftigt, fragt
sich unwillkürlich, welche Fähigkeiten bei sich selbst gut ausgeprägt und
welche Fähigkeiten vielleicht unzureichend sind, und entwickelt das wichtige
Bewusstsein dafür, dass mit Faktenwissen, Intellekt und Willensanstrengung allein die Anforderungen des Lebens nicht
bewältigt werden können. Praktisch gehe ich so vor, dass ich erst einmal alle
jene Fähigkeiten hervorhebe, die bei meinen Patienten relativ gut entwickelt
sind. Es ist eine gute Übung für uns Therapeuten, inmitten der vielen Probleme
und Defizite unserer Patienten
möglichst alle ihre Ressourcen zu entdecken. Es
dient der Stabilisierung unserer Patienten, wenn wir ihre vorhandenen
Fähigkeiten und positiven Ziele sowie die Unterstützung aus ihrem sozialen
Umfeld erkennen und dafür
sorgen, dass diese Ressourcen auch genutzt werden. Grundsätzlich ist danach zu
fragen, welche Schwierigkeiten ein Patient in der Vergangenheit bereits auf welche
Weise und mit welcher Unterstützung bewältigt hat.
Ich erkläre meinen
Patienten, dass die aufgelisteten Fähigkeiten vor allem am Vorbild der Eltern erworben werden, dass
der Erwerb dieser Fähigkeiten nicht bewusst und willentlich, sondern automatisch erfolgt und wesentlich davon abhängt,
wie gut die Eltern selbst über diese Fähigkeiten verfügen. Dann gehe ich die
Liste der Ich-Funktionen mit meinen Patienten durch und frage sie, wie gut die
einzelnen Fähigkeiten bei Mutter und Vater ausgeprägt sind
beziehungsweise früher ausgeprägt waren. Die gemeinsame Betrachtung der
Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten der Eltern des Patienten stellt eine weitere
Metaperspektive dar, die ich zusammen mit meinen Patienten einnehme. Für die
meisten Patienten ist diese Perspektive neu. Sie sehen die Unzulänglichkeiten
der Eltern nun nicht mehr nur aus dem engen Blickwinkel des ehemaligen Kindes,
das sich beispielsweise verletzt, vernachlässigt oder ungerecht behandelt
fühlte, sondern zunehmend auch mit den Augen eines distanzierten erwachsenen
Betrachters, der erkennt, dass den Eltern eine Reihe wichtiger Ich-Funktionen einfach nicht im
wünschenswerten Maße zur Verfügung stand und steht.
Mit
diesem Umweg über die Fähigkeiten und Defizite der Eltern taste ich mich an die
Thematisierung der strukturellen Defizite meiner Patienten heran. Häufig
scheinen bestimmte Ich-Funktionen bei den Patienten
besser entwickelt zu sein als bei den Eltern. Ich frage meine Patienten, bei
welchem Menschen sie diese speziellen Ich-Funktionen erworben haben, und
würdige ihre besondere Lernleistung. Oft werfen die Patienten die Frage nach
ihren strukturellen Defiziten selbst auf. Statt
aber meinen Patienten zu sagen: „Sie haben meines Erachtens das und das
Defizit“, und sie damit möglicherweise zu kränken, versuche ich, gemeinsam mit
meinen Patienten herauszufinden, welche besonderen Herausforderungen ihr Leben
aktuell an sie stellt und welche Entwicklungsaufgaben gerade anstehen. Ich
erarbeite gemeinsam mit ihnen, welche besonderen Fähigkeiten angesichts dieser
Anforderungen und Aufgaben
besonders gebraucht werden. Ich frage meine Patienten, wie sich die Eltern oder
Geschwister des Patienten in ähnlichen Anforderungssituationen verhalten
beziehungsweise verhalten haben.
Trotz
aller Behutsamkeit bleibt es selbstverständlich mein Ziel, dass meine Patienten
rasch Klarheit über ihre Fähigkeiten und Defizite gewinnen. Es ist auch in der Ausbildung von
angehenden Psychotherapeuten mein Anliegen, dass diese erkennen, wo ihre
strukturellen Stärken und Schwächen liegen. Unser Wissen um unsere eigenen
Defizite hat den großen Vorteil, dass wir damit relativ leicht verstehen
können, warum wir in bestimmten Anforderungssituationen mehr als andere unter
Druck geraten, in solchen Situationen immer wieder scheitern, krank werden oder
solche Situationen gewohnheitsmäßig vermeiden (und uns damit möglicherweise
wichtiger Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten berauben). Nicht nur in der
Ausbildung von Psychotherapeuten und in der Patientenbehandlung, sondern auch
im kollegialen Austausch mit anderen Therapeuten geht es mir darum, dass sich
jeder in seinem schicksalhaften strukturellen Gewordensein und mit seiner
jeweiligen individuellen Ausstattung an Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten erst einmal annimmt,
auch mit all dem, was einem fehlt. Gerade in der strukturbezogenen
Psychotherapie gilt, dass jeder
Mensch ist, wie er ist, und dass er auch so bleiben dürfen soll. Als TherapeutIn
kann man die grundlegende Struktur seiner Patienten wahrscheinlich ohnehin
nicht sehr verändern. Versucht man es trotzdem, richtet man vielleicht mehr
Schaden an, als man nutzt.
Eine
tief greifende Veränderung der Struktur ist nicht
Aufgabe einer tiefenpsychologisch fundierten Richtlinienpsychotherapie und meines
Erachtens in der Regel auch nicht notwendig. Sobald ein Patient seine eigenen
strukturellen Schwachstellen kennt und auch die Anforderungssituationen, die aufgrund dieser Defizite besonders kritisch sind, hat er – anders als
zuvor – eine Wahlmöglichkeit. Er muss nicht mehr fortlaufend bestimmte schmerzvolle
Erfahrungen unbewusst wiederholen. Er hat zunehmend
die Möglichkeit, sich zum Beispiel gezielt Unterstützung aus seinem sozialen
Umfeld oder institutionelle
Hilfe zu holen. Eine zentrale Aufgabe der Therapiebeziehung besteht darin, die
Fähigkeit des Patienten zu entwickeln, geeignete Hilfe zu suchen und auch
anzunehmen. Die Therapiebeziehung ist dafür ein Modell. In der Regel werde ich
als Therapeut ein besseres Ich-Funktionen-Niveau aufweisen als meine
Patienten. Ich stelle bestimmte
Ich-Funktionen zur Verfügung, die
meinen Patienten fehlen.
Beispielsweise
kann ich Paargespräche führen, wenn ein zermürbender Partnerschaftskonflikt
nicht gelöst werden kann, weil die Affektsteuerung, die Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die emotionale
Kommunikationsfähigkeit eines Patienten (und
oft auch des Partners) unzureichend sind. Wenn ich als Therapeut als hilfreich
erlebt werde, gewinnen meine Patienten zunehmend Vertrauen in mein Hilfsangebot.
Mein Ziel aber ist, dass meine Patienten – spätestens nach Beendigung der
Therapie – unabhängig von mir andere Hilfsangebote finden und nutzen können.
Ich schaue mich daher schon früh im Therapieprozess nach den sozialen
Ressourcen meiner Patienten um
und ermutige sie, sich auch außerhalb der Therapie alle geeigneten
Unterstützungsmöglichkeiten zu erschließen.
In meinem Buch „Bewusstsein
– Unbewustes“[2]
(aus dem dieser Text weitgehend entnommen ist) spreche ich von „Lernen
durch Liebe“ im Sinne einer Verinnerlichung wichtiger Fähigkeiten und Werte am
konsistenten positiven Modell der Eltern oder anderer
Bezugspersonen in einer Atmosphäre sicherer Bindung. Dieser überaus wirksame soziokulturelle
Lernmechanismus spielt wahrscheinlich auch in Therapiebeziehungen eine große
Rolle. Bei einer guten Patient-Therapeut-Beziehung ist davon auszugehen, dass sich die
Patienten mit Teilaspekten der Persönlichkeit ihrer Therapeuten
(vor allem mit Fähigkeiten, die aus der Sicht der Patienten erstrebenswert
sind) identifizieren und dass sie diese
Teilaspekte sowie für sie neuartige positive (korrektive) Erfahrungen innerhalb
der Therapiebeziehung in sich aufnehmen.
Therapeuten können je nach Geschlecht auch als Modell für die spezifische Rolle
ihrer Patienten als Mann oder als Frau dienen. So kann zum Beispiel eine
Patientin bei ihrer Therapeutin genau jenes positive Vorbild für Weiblichkeit, Sexualität, Emanzipation oder Mutterschaft finden, das sie bei der
eigenen Mutter vermisst hat. Modelllernen ist umso wahrscheinlicher,
je intensiver die emotionale Beziehung
zwischen dem Lernenden und seinem Vorbild ist.
Das
Modelllernen ist nicht auf
explizite Instruktion angewiesen.
Veränderungen stellen sich auch
durch nonverbale, implizite Prozesse ein. Es geht gerade in der
strukturbezogenen Psychotherapie weniger darum, dass
Therapeuten viel erklären, sondern vielmehr darum, vorzumachen, wie man mit
schwierigen interpersonellen Situationen und Herausforderungen, welche
strukturgestörte Patienten in der Therapiebeziehung oft reichlich
liefern, anders umgehen kann, als die Patienten es bisher kennen. Nach der
klassischen psychoanalytischen Theorie finden Identizierungen mit einem
elterlichen Vorbild gerade dann besonders
intensiv statt, wenn das Ich (klassisch in der
Phase der Auflösung des Ödipus) auf die Befriedigung kleinkindhafter
Bedürfnisse zunehmend verzichten
muss. Günstige Identifizierungsprozesse sind folglich dann am ehesten zu
erwarten, wenn die Patienten in einer wohlwollenden Atmosphäre der
Therapiebeziehung einerseits emotional ausreichend andocken können,
andererseits aber nicht durch ein allzu komplementär versorgendes
Beziehungsangebot ihrer Therapeuten in eine regressiv-passive Erwartungs- und
Abhängigkeitshaltung gedrängt werden. Das Ich wächst am Verzicht,
vorausgesetzt, die zugemutete Verzichtleistung wird nicht als kränkend oder
bedrohlich erlebt.
Psychotherapie soll nachhaltige Lern- und Veränderungsprozesse
auf den Weg bringen. Die Patienten sollen jene Fähigkeiten erwerben, die ihnen
erlauben, die aktuellen Anforderungen und Entwicklungsaufgaben ihres Lebens so zu bewältigen, dass ihre
Bedürfnisse sozialverträglich befriedigt werden und dass
das unvermeidliche Maß an Inkonsistenzspannung so weit reduziert wird, dass die Patienten
keine Symptome mehr ausbilden müssen. Damit Patienten neue Fähigkeiten erwerben
und sich aus ungünstigen Lernerfahrungen ihrer Vergangenheit befreien können, ist es wichtig, dass sich im
Rahmen des Therapieprozesses ihre sozialen Kontexte verändern. Eine erste Kontextveränderung
ergibt sich durch die Therapiebeziehung. Sie erweitert das soziale Umfeld der Patienten oft
wesentlich. Viele Patienten bekommen in der Therapie erstmals in ihrem Leben
ein so hohes Maß an wohlwollender Aufmerksamkeit und Gelegenheit, so
viel über sich selbst mitteilen zu können. Bei Patienten, die in dyadischen
Konstellationen leben, also emotional auf nur einen einzigen anderen Menschen
bezogen sind, erfolgt durch die Therapiebeziehung eine Triangulierung: Der
Therapeut wird der Dritte im Bunde, wodurch sich die Dynamik der bisherigen
dyadischen Beziehung erheblich verändern kann. Neue Kontexte gehen mit
Veränderungen der Perspektive
einher und induzieren Lernprozesse, die mit therapeutischer Unterstützung in eine förderliche
Richtung gelenkt werden können.
In
seelischer Not folgen viele Menschen dem Impuls, sich aus sozialen Kontakten
zurückzuziehen. Der Vorteil eines solchen Rückzugs besteht darin, dass die
Patienten gewohnte Kontexte, die sie zunehmend in
dysfunktionalen Automatismen und Routinen gefangen halten,
verlassen. Auf Dauer wirkt sich jedoch ein sozialer Rückzug oder der
ausschließliche Kontakt mit den engsten Vertrauten (die meist zunehmend hilflos
werden) nachteilig aus und verschärft den Leidenszustand. Soziale Kompetenzen gehen verloren. Am
besten lassen sich die defizitären Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten durch häufige und intensive soziale Kontakte
trainieren, beispielsweise in Gruppen und Gemeinschaften, die
eine funktionierende Kultur des wertschätzenden Miteinanders entwickelt
haben und die sich mit Sinn und Freude stiftenden Dingen beschäftigen. Wenn die Ich-Funktionen starke Defizite aufweisen, werden intensive soziale Kontakte
verständlicherweise oft als anstrengend, beunruhigend, verwirrend, beschämend
oder sogar bedrohlich erlebt. Deshalb benötigen Patienten oft den geschützten
Rahmen einer Einzel- oder Gruppenpsychotherapie oder von Selbsthilfegruppen.
Auch Religionsgemeinschaften stellen Hilfsangebote, im Einzelgespräch oder in
der Gruppe, zur Verfügung.
Grundsätzlich verfolge ich mittelfristig und
langfristig das therapeutische Ziel, dass meine Patienten ihre sozialen
Kontakte intensivieren, ihre sozialen Kompetenzen trainieren und ihre sozialen
Befriedigungsmöglichkeiten erweitern. Dazu gehört auch, dass manche Patienten
lernen, sich gegen allzu viele oberflächliche oder dysfunktionale Kontakte abzugrenzen,
dass sie selektiver in der Auswahl ihrer Freunde werden und sich auf solche
Beziehungen fokussieren, welche ihre Entwicklung und die Erfahrung gemeinsamen
Sinnerlebens fördern.
Strukturniveau
(Ich-Funktionen-Niveau)
Das Strukturniveau
ist ein psychodynamisches Maß für die Qualität der Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten (Ich-Funktionen), die
jeder Mensch benötigt, um mit dem jeweiligen aktuellen Anpassungsdruck aus seiner
spezifischen soziokulturellen Wirklichkeit fertig zu werden. Die
Anforderungen des therapeutischen Gesprächs dienen als brauchbare
Testbedingung, um einschätzen zu können, inwieweit das soziale
Interaktionsverhalten und die Selbststeuerung von Patienten situationsgerecht
und funktional sind. Schilderungen von interpersonalen Alltagsepisoden und aus
der Vergangenheit geben weitere Hinweise auf die individuell ausgeprägten
strukturellen Fähigkeiten. Die
Bestimmung des Strukturniveaus ist nur einer
von mehreren möglichen strukturdiagnostischen Schritten im Rahmen einer fokalen,
zeit- und zielbegrenzten Richtlinientherapie
und muss durch andere diagnostische Kategorien, zum Beispiel die Neurosendispositionen[3], ergänzt werden. Zunächst sollen
einige grundlegende Begriffe geklärt werden.
Das Ich und die Ich-Funktionen in Abgrenzung vom Selbst
Die Begriffe „Selbst“ und „Ich“ werden
oft synonym verwendet. Auch in der neueren psychodynamischen Literatur werden
sie nicht immer klar voneinander abgegrenzt. Eine ganze Reihe seelischer
Krankheitsbilder und die ihnen psychogenetisch zugrunde liegenden biografischen
Erfahrungen und Persönlichkeitsbesonderheiten (Neurosendispositionen) von
Patienten lassen sich jedoch besser verstehen, wenn wir die Begriffe „Selbst“
und „Ich“ präzise definieren und trennscharf verwenden. Ein solches Verständnis
hat zudem konkrete behandlungstechnische Konsequenzen.
Wenn wir als psychodynamisch fundierte
TherapeutInnen von „dem Selbst“ eines Menschen sprechen, dann haben wir damit
die innere Repräsentanz, das Modell oder das Bild, das dieser Mensch von sich
selbst hat (analog dem inneren Bild, das ein Mensch von einem anderen
vertrauten Menschen hat). Das Selbstbild ist allerdings kein rein kognitives
Konzept, das jemand von sich selbst hat, sondern immer auch etwas Körperliches
und unmittelbar Gefühltes. Nach psychodynamischem Verständnis ist das Selbst
mit Antrieben und Impulsen sowie lustvollen oder unlustvollen Affekten
verbunden. Das
„gesunde“ Selbst ist – wie es psychoanalytisch heißt – ausreichend libininös
besetzt. Das heißt, gesundes Selbsterleben geht mit überwiegend positiven
Empfindungen sowie mit einem angemessenen Gefühl für den eigenen Wert und die
eigene Wirksamkeit einher. Subjektiv zeichnet
sich ein gesundes Selbst durch das vertraute subjektive Erleben eines Menschen
aus, eine Ganzheit, ein autonomes, beständiges und kohärentes Zentrum von
Vitalität, der Mittelpunkt des unmittelbaren Empfangens von Eindrücken sowie
der Initiator und Verursacher von Veränderungen in der Umwelt zu sein.
Das Ich hingegen ist historisch gesehen
jene innerpsychische Instanz, die einst Sigmund Freud in seinem berühmten
Strukturmodell als Vermittler im Konflikt zwischen dem von ihm postulierten
„Es“ (den biologischen Triebkräften, die im Menschen wirken) und dem „Über-Ich“
(verinnerlichten soziokulturellen Geboten und Verboten) angenommen hat.[4]
Es ist das
Verdienst von Heinz Hartmann, das Ich nicht nur als Austragungsort von neurotischen
Konflikten angesehen zu haben. Vielmehr leistet das Ich im Verständnis
Hartmanns generell die für die seelische Gesundheit unverzichtbare Anpassung an
jene Umweltbedingungen, in die ein Kind schicksalhaft hineingeboren wird. Das Ich ist also als die Summe der seelischen Funktionen zu
verstehen, die eine möglichst gute Adaptation des Individuums, vor allem an
seine soziale Umgebung, gewährleisten. Nach Gerd Rudolf ist das Ich eine teils
angeborene, teils erworbene Struktur mit der Fähigkeit, intentional mit der
sozialen Umwelt zu interagieren und zu kommunizieren, die Realität wahrzunehmen
und sie in einem seelischen Binnenraum abzubilden.[5]
Der Kampf zwischen den Triebansprüchen und der Außenwelt findet in diesem
innerseelischen Raum statt. Konflikte und geeignete Konfliktlösungen können
dort antizipiert und günstige Formen der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse
und Triebregungen gefunden werden. Gefahren werden innen bewältigt, bevor sie
äußere werden.[6]
Dazu ist erforderlich, dass das Ich konfliktträchtige Trieb- und
Bedürfnisregungen aufschieben oder auf ungefährlichere und sozial anerkannte
Bereiche verlagern kann. Kann das konflikthafte Verlangen wegen seiner
Dringlichkeit nicht aufgeschoben oder verschoben werden, dann entsteht Angst,
zum Beispiel vor der Wiederholung eines alten Traumas, einer Strafe, einer Kränkung,
eines Mangels oder eines Verlustes. Nehmen die Angst und Erregung, die mit
einem Bedürfnis oder Triebanspruch verbunden sind, ein Maß an, welche die
Kohärenz des Selbst und die Funktionsfähigkeit des Ichs gefährden würde,
verdrängt das Ich diese Bedürfnis- oder Triebregung einschließlich der mit ihr
verbundenen Angst ins Unbewusste. Das ist ein Kerngedanke der
psychoanalytischen Theorie. Das Ich fungiert also auch als Reizschutz und
Stabilisator für das Selbst. Es errichtet Schwellen gegen die Überflutung von
Triebimpulsen und Angst von innen sowie gegen verführerische, irritierende oder
bedrohliche Reize von außen. Für diese Schutzfunktion bedient es sich der von
Anna Freud beschriebenen Abwehrmechanismen.[7]
Die Abwehr dient der Bewältigung unbewusster innerer Konflikte und
ist nur eine von vielen Aufgaben des Ich. Die hauptsächliche Funktion dessen,
was in der psychodynamischen Theorie als „Ich“ bezeichnet wird, besteht darin,
die Anforderungen des Alltags zu bewältigen. Was das Ich überwiegend leistet,
setzt sich aus einer Fülle von Routinen zusammen, die jeder von uns jeden Tag –
ohne darüber bewusst nachdenken zu müssen – auf die durchschnittlichen
Situationen in seinem Tagesablauf anwendet. Die alltäglichen Routineleistungen
des Ich betreffen unter anderem die Wahrnehmung und das Beziehungsverhalten
sowie die nonverbale und verbale Kommunikation. Besondere Beanspruchungen, zum Beispiel
neuartige Lebenslagen und ungewohnte Begegnungen mit fremden Menschen oder auch
konflikthafte Situationen, stellen erhöhte Anforderungen an das Ich. Das Ich
ist dann beispielsweise gefordert, Zusammenhänge zu erkennen und Realität zu
prüfen sowie die Reaktion anderer und die Konsequenzen auf das eigene Verhalten
vorauszusehen. Impulse und Affekte müssen unter Kontrolle gehalten und das Selbstwertgefühl reguliert werden. Das Ich muss Zwecke und
Ziele erkennen,
Urteile fällen und autonom verantwortliche Entscheidungen treffen können. Es zwingt uns sogar zu Tätigkeiten, zu denen wir
keine Lust haben.
Die adaptative Qualität unserer Ich-Funktionen hängt
folglich davon ab, wie gut wir mit bestimmten Fähigkeiten ausgestattet sind. Diese Fähigkeiten, die wir im Laufe
unserer Enkulturation und Sozialisation erworben haben und idealerweise immer
weiter erwerben, beziehen sich vor allem auf die Selbststeuerung und die
Interaktion. Wie gut und vollständig jeder von uns diese Fähigkeiten aneignen
konnte, hing hauptsächlich von dem sozialen Umfeld ab, in dem wir aufwuchsen.
Wenn unsere Eltern selbst über eine hohe Qualität von Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten verfügten und als Vorbilder meist für uns präsent
waren, hatten wir gute Chancen, diese Fähigkeiten durch Mimesis vollständig zu
entwickeln. Hatten unsere Eltern in Bezug auf diese Fähigkeiten erhebliche
Defizite oder standen sie uns nur unzureichend als Modell zur Verfügung, dann
waren die Bedingungen für unser Imitationslernen entsprechend eingeschränkt.
Die von Gerd
Rudolf konzipierte Struktur-Achse der OPD-2 macht deutlich, was im Alltag unter Ich und Ich-Funktionen verstanden
werden kann. Das Strukturniveau kann in den
folgenden vier Hauptdimensionen beschrieben werden. Danach sind die wichtigsten
Kriterien aufgeführt, nach denen das Niveau der vier Strukturdimensionen als
gut integriert, mäßig integriert und gering integriert eingeordnet werden kann.
Ich habe versucht, die teilweise etwas sperrigen Formulierungen der OPD-2 an
die Notwendigkeit einer alltagstauglichen Routinediagnostik in der ambulanten
Psychotherapie-Praxis anzupassen.
Wahrnehmung
Unterscheiden
Bindung Selbststeuerung
innere Bilder Beziehung
schützen
Emotionale
Kommunikation
Die
Ich-Funktionen im einzelnen:
Beschreibung der einzelnen
Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten (Ich-Funktionen)
|
Einschätzung
ihrer Qualität
|
|||
A. Selbstwahrnehmung und
Selbststeuerung
|
gut
|
mäßig
|
gering
|
|
1
|
Nach innen schauen, eigene
Bedürfnisse und Gefühle wahrnehmen
Fähigkeit und Interesse, seine Aufmerksamkeit nach innen zu richten,
seine eigenen Bedürfnisse, Gefühle (positive wie negative), Gedanken und
Fantasien wahrzunehmen, zu spüren, was der eigene
Körper braucht (zum Beispiel Schonung, Ruhe, Bewegung oder Zärtlichkeit) und
was ihm schadet (zum Beispiel Stress, Fehlernährung, Konsum von Suchtmitteln)
|
|||
2
|
Für sich selbst sorgen
Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen und sich selbst zu schützen, so
wie man auch für einen anderen, zum Beispiel ein Kind, das man liebt, sorgen
würde und das man schützen würde
|
|||
3
|
Selbstkontrolle
Einsicht und Fähigkeit, wichtige Dinge auch dann zu tun, wenn man
keine Lust hat, und sich zu kontrollieren, wenn man zum Beispiel ein starkes
Verlangen nach Alkohol, Zigaretten, Drogen, Sex, Spielen, Einkaufen und so
weiter hat oder wenn man am liebsten vor Wut etwas beschädigen oder einen
anderen oder sich selbst verletzen würde
|
|||
4
|
Klares Bild von sich
selbst
Ein klares Bild von sich selbst, der eigenen Identität, den eigenen Fähigkeigten,
Zielen, Aufgaben und Rollen im Leben besitzen
|
|||
5
|
Abschirmung gegen eigene
negative Emotionen
Fähigkeit, bei Bedarf einen inneren Schutzwall gegen negative
Emotionen (zum Beispiel Angst, Wut, Verzweiflung, Scham, Traurigkeit,
Wertlosigkeit) zu errichten und seine Aufmerksamkeit auf Dinge zu
konzentrieren, die mit positiven Emotionen verbunden sind und geeignet sind,
das innere Gleichgewicht wieder herzustellen.
|
|||
6
|
Sich selbst annehmen und
wertschätzen, Selbstvertrauen
Fähigkeit, sich selbst, so wie man ist, grundsätzlich zu akzeptieren
und zu mögen, auch dann, wenn man Fehler gemacht oder Rückschläge erlitten
hat. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Qualitäten.
|
|||
B. Realistische
Wahrnehmung anderer
|
||||
7
|
Bedürfnisse und Gefühle
anderer wahrnehmen
Fähigkeit und Interesse, die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen
wahrzunehmen, sich in andere Menschen einzufühlen und die Reaktionen anderer
Menschen vorauszusehen
|
|||
8
|
Andere ganzheitlich
wahrnehmen
Fähigkeit zu erkennen, dass andere Menschen in der Regel sowohl gute,
zu den eigenen Bedürfnissen und Erwartungen passende Seiten als auch
schlechte, den eigenen Bedürfnissen und Erwartungen entgegenstehende Seiten
haben (dass man nicht einseitig nur die eine oder andere Seite sieht)
|
|||
9
|
Zwischen Eigenem und
Fremdem unterscheiden
Fähigkeit zu erkennen und zu akzeptieren, dass andere Menschen
Wünsche, Gefühle und Meinungen haben, die sich von den eigenen unterscheiden
|
|||
C.
Bindungen
|
||||
10
|
Beziehungen eingehen
Fähigkeit, die emotionale Wichtigkeit anderer Menschen zu empfinden,
mit positiven Erwartungen mit anderen in Kontakt zu treten und anderen
entsprechend positive Gefühle zu zeigen
|
|||
11
|
Wertschätzung, Zuneigung
und Hilfe annehmen
Bedürfnis und Fähigkeit, den positiven Gefühlen und Hilfsangeboten,
die andere einem entgegenbringen, zu vertrauen und sie anzunehmen
|
|||
12
|
Sich selbst gegen
Ausbeutung und Missbrauch schützen
Fähigkeit, (zum Beispiel narzisstisch, sexuell oder finanziell)
missbräuchliche Beziehungsangebote zu erkennen und sich vor Beziehungen
dieser Art zu schützen
|
|||
13
|
Gute innere Bilder
entwickeln
Fähigkeit, aus den positiven Erfahrungen mit bestimmten Menschen ein
stabiles und positives inneres Bild dieser Menschen zu entwerfen, das auch in
Abwesenheit dieser Menschen eine hilfreiche, zum Beispiel beruhigende und
ermutigende Wirkung entfaltet
|
|||
14
|
Dauerhafte Bindungen
eingehen und aufrechterhalten
Bedürfnis und Fähigkeit, mit anderen Menschen dauerhafte Bindungen
einzugehen, sich gegenseitig zu unterstützen und Gefühle von Fürsorge,
Verantwortung und Dankbarkeit zu empfinden
|
|||
15
|
Beziehungen schützen
Bereitschaft und Fähigkeit, auf die Bedürfnisse und Interessen anderer
Menschen Rücksicht zu nehmen, Regeln zu beachten, Gefühle von Gerechtigkeit
und Schuld zu empfinden
|
|||
16
|
Konflikte durchstehen und Ausgleich suchen
Fähigkeit, wenn nötig auch Konflikte und negative oder ambivalente Gefühle
durchzustehen, verbunden mit der Bereitschaft, immer wieder Kompromisse und
einen Ausgleich mit anderen zu suchen und zu finden sowie anderen ihre
Verfehlungen zu vergeben
|
|||
17
|
Beziehungen zu mehreren
Menschen und in Gruppen (variable Bindung)
Bedürfnis und Fähigkeit, intensive Beziehung nicht nur mit einem
einzigen Menschen, sondern mit mehreren oder vielen Menschen und auch in
Gemeinschaften einzugehen und mit verschiedenen Menschen
unterschiedliche Interessen und Befriedigungsmöglichkeiten zu teilen
|
|||
18
|
Selbstständig sein,
Bindung lösen
Fähigkeit, phasenweise auch alleine sein zu können, seinen eigenen Weg
zu gehen und Beziehungen zu beenden, wenn sie einem schaden oder die eigene
Weiterentwicklung behindern
|
|||
19
|
Angemessen trauern
Fähigkeit, nach Trennungen und Verlust von wichtigen Menschen
angemessen zu trauern, seine Trauer mit anderen zu teilen, neue
Lebensperspektiven zu entwickeln und sich auf neue Beziehungen einzulassen
|
|||
D. Kommunikation
|
||||
20
|
Emotionale Kommunikation
Fähigkeit, für die eigenen Emotionen und Impulse Worte oder eine
andere, zum Beispiel künstlerische Ausdrucksmöglichkeit zu finden, statt sie
auszuagieren
|
|||
21
|
Nutzung und Kanalisierung
der eigenen Aggression
Fähigkeit, das eigene aggressive Potenzial sozial verträglich zu
nutzen, um sich gegen unangemessene Forderungen oder Zumutungen anderer zur
Wehr zu setzen, den eigenen Interessen Gehör zu verschaffen und sie
durchzusetzen
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Grundrespekt trotz
negativer Affekte
Fähigkeit und Bereitschaft, negative Emotionen (zum Beispiel
Enttäuschung, Ärger, Wut, Verachtung) so auszudrücken, dass immer ein
Grundrespekt erkennbar ist und andere nicht verletzt werden
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Gesamtmaß für das
Ich-Funktionen-Niveau beziehungsweise Strukturniveau
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Zusammenfassung:
·
Aus psychodynamischer
Sicht ist „das Selbst“ die innere Repräsentanz, das Modell oder das Bild, das
ein Mensch von sich selbst hat.
·
Ein „gesundes“ Selbst
zeichnet sich durch das subjektive Erleben aus, eine Ganzheit, ein autonomes,
beständiges und kohärentes Zentrum von Vitalität und Initiative und der
Mittelpunkt des unmittelbaren Empfangens von Eindrücken zu sein.
·
Das Ich ist hingegen als die Summe aller dem
Menschen vorbehaltenen mentalen Funktionen zu verstehen, die seine möglichst
gute Adaptation an seine soziale Umgebung gewährleisten und die Kohärenz seines
Selbst sicherstellen.
·
Die Abwehr ist nur eine von vielen Aufgaben des
Ich.
·
Die hauptsächliche Funktion des Ich besteht
darin, die Anforderungen des Alltags zu bewältigen.
·
Die adaptative Qualität der Ich-Funktionen eines Menschen
hängt davon ab, wie gut die Eltern über Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten
verfügten und als Vorbilder präsent waren.
·
Das Strukturniveau ist ein Maß für die
Qualität der Ich-Funktionen.
Praktische
Konsequenzen:
Das Strukturniveau gibt uns eindeutige
diagnostische Kriterien an die Hand, die eine zuverlässige Einschätzung der
Qualität der Ich-Funktionen, sprich der Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten unserer Patienten, ermöglicht. Die Kriterien sind –
wenigstens vom Anspruch her -
„interraterreliabel“, das heißt, unterschiedliche Untersucher (rater) sollten
mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zu ähnlichen Einschätzungen gelangen. Wir
können uns somit besser als früher über das, was wir unter Ich-Funktionen
verstehen, mit anderen Fachleuten verständigen. Die Bestimmung des
Strukturniveaus hat vor allem klare therapeutische Konsequenzen. Da wir die
strukturellen Fähigkeiten und Defizite unserer Patienten realistischer
einschätzen sowie die biografischen Ursachen für die Defizite besser verstehen
können, werden wir nachsichtiger, geduldiger und mitfühlender, ohne dass diese
annehmende Haltung übermäßig anstrengend sein muss.
Die Bestimmung des Strukturniveaus mag auf den
ersten Blick als distanzierte, formalisierte Klassifizierung von Patienten
erscheinen. In der Praxis trifft das Gegenteil zu: Wir können das
Strukturniveau nämlich nur dann sinnvoll bestimmen, wenn wir zuvor mit unseren
Patienten über mehrere Stunden in einen intensiven persönlichen Kontakt
getreten sind. Unser therapeutischer Ehrgeiz verstellt nicht mehr so sehr unseren
Blick auf die möglicherweise begrenzten Einsichts-, Bewältigungs- und
Veränderungsfähigkeiten unserer Patienten. Zugleich schärft die
Strukturniveau-Diagnostik den Blick für die Ressoucen des Patienten und die
Ressourcen seines sozialen Umfelds. Das Bewusstmachen sowie die Nutzung und
Aktivierung dieser Ressourcen machen einen großen Teil unserer therapeutischen
Bemühungen aus. Damit tragen wir der Erkenntnis der Psychotherapieforschung
Rechnung, dass die Qualität der Therapiebeziehung sowie die Ermutigung und
Nutzung von Ressourcen zu den stärksten Wirfaktoren in der Psychotherapie
gehören. Die
Forschung legt uns nahe, unsere Hauptaufmerksamkeit den Selbstheilungskräften
der Patienten und den sozialen Systemen, in denen sie leben, zuzuwenden.[8]
Strukturelle Defizite haben biografische Ursachen.
Kein Mensch hat sich die Defizite seiner Ich-Funktionen ausgesucht. Die
Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten entwickeln sich durch implizites
Imitationslernen. Niemand konnte sich als Kind willentlich verweigern, sie zu erwerben.
Unsere strukturellen Defizite haben wir folglich nicht schuldhaft erworben. Sie
sind vielmehr unseren Patienten, Verwandten und Freunden, sie sind uns selbst schicksalhaft
zugestoßen, weil die Lernbedingungen, die wir als Kinder vorfanden, in der
einen oder anderen Hinsicht vielleicht nicht optimal waren.
Wenn immer möglich, können wir die strukturellen
Ressourcen und Defizite unserer Patienten in der Therapie zum Thema
(Strukturfokus) machen. Es ist auch gut, wenn wir uns unserer eigenen strukturellen
Stärken und Schwachstellen bewusst sind. Eine der wichtigsten Botschaften an unsere
Patienten ist: Keiner ist schuld an seinem struktuellen Unvermögen, aber jeder
von uns ist für seine Defizite verantwortlich. Mit der Berücksichtigung des
Strukturniveaus können wir uns eine Menge Aufregung, Ärger und Enttäuschung in
unserer Gegenübertragung sprichwörtlich „schenken“. Unsere negativen Affekte
mildern sich ab, sobald uns bewusst wird, dass andere – ebenso wie wir selbst –
in ihrer strukturellen Beschaffenheit gefangen sind und in der Regel nicht
irgendwelche Dinge mit der Absicht tun, um uns zu schaden oder unsere
Bedürfnisse zu missachten. Auf diese Weise können wir selbst bei sehr
schwierigen und anstrengenden Patienten eine wohlwollende und emotional
unterstützende Beziehung aufrecht erhalten.
Diagnostische Zielsetzung des
Strukturniveaus
·
Erkennen wichtiger Ressourcen des Patienten
·
Erkennen einer Überforderung der Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten des Patienten durch aktuelle Anforderungen,
Belastungen, Veränderungen und Entwicklungsaufgaben
·
Unterscheidung von Symptombildung durch Überforderung und
Symptombildung durch einen aktuellen unbewussten inneren Konflikt
·
Einschätzung der Suizidalität
Behandlungstechnische Zielsetzung
mit Hilfe des Strukturniveaus
·
Beherrschung einer negativen Gegenübertragung durch Erkennen
des strukturellen Unvermögens und der Unabsichtlichkeit der problematischen
Verhaltensweisen oder Kommunikationsformen des Patienten
·
Mehr Bescheidenheit und Geduld des Therapeuten hinsichtlich
der Veränderungsfähigkeit des Patienten und der Therapieziele
·
Weniger Druck auf Therapeut und Patient
·
Befähigung des Therapeuten, auch mit schwierigen Patienten
über längere Zeiträume hinweg eine wohlwollende, wertschätzende, Halt und Modell
gebende Therapiebeziehung aufrecht zu erhalten
·
Bewusstmachen und maximale Aktivierung und Nutzung der
persönlichen und sozialen Ressourcen des Patienten
·
Bewusstmachen der für die aktuellen Schwierigkeiten und
Symptome des Patienten relevanten Defizite
·
Verstehen der Defizite aus den biografischen
Entwicklungsbedingungen (zum Beispiel fehlendes Modell der Eltern) und damit
Entlastung der Schuld- und Versagensgefühle des Patienten
·
zunehmende Verantwortungsübernahme des Patienten für seine
Defizite
·
Festlegung von einigen wenigen Strukurfoki und die
systematische Arbeit an denselben
·
Modellhaftes Vormachen von Selbststeuerungs- und
Interaktionsfähigkeiten durch den Therapeuten anstelle von zuviel Erklären
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Dr. med. Udo Boessmann
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